Aus ihrem Roman HEIMARBEIT:
Sobald ich von meiner Heimat erzähle, ernte ich irritierte, schockierte, auch angewiderte Blicke. Ich übertreibe, heißt es, dramatisiere mal wieder, fröne meiner Lust am Makabren, ja am Primitiven, Geschmacklosen. Doch was kann ich dafür? Mein Landstrich müsse ein besonders hässlicher, ein negativer Winkel sein, höre ich. Seine Bewohner seien erstaunlich rückständig, unglücklich und anmaßend in Einem, wahrscheinlich seien wir allesamt krank oder pervers. Wieder hebe ich die Schultern, bereue schon, dass ich etwas erzählt habe: Wie rette ich jetzt die Würde meiner Mitmenschen und mit ihr meine eigene, die, ob es mir gefällt oder nicht, mit ihnen verbunden ist? Mir kamen sie immer ganz normal vor, sage ich zu unserer Verteidigung. Vielleicht sind wir etwas starrköpfig und verschlossen. Das liegt an der Höhenlage, den langen Wintern mit ihren Schneemassen, die uns über Monate hinweg von der Außenwelt abschirmen; am lichtlosen Fichtenwald, der unsere Orte einfasst wie ein Trauerrand, an der Zeit, die oft stillzustehen scheint hier oben in der Uhrenwelt:
mehrSobald ich von meiner Heimat erzähle, ernte ich irritierte, schockierte, auch angewiderte Blicke. Ich übertreibe, heißt es, dramatisiere mal wieder, fröne meiner Lust am Makabren, ja am Primitiven, Geschmacklosen. Doch was kann ich dafür? Mein Landstrich müsse ein besonders hässlicher, ein negativer Winkel sein, höre ich. Seine Bewohner seien erstaunlich rückständig, unglücklich und anmaßend in Einem, wahrscheinlich seien wir allesamt krank oder pervers. Wieder hebe ich die Schultern, bereue schon, dass ich etwas erzählt habe: Wie rette ich jetzt die Würde meiner Mitmenschen und mit ihr meine eigene, die, ob es mir gefällt oder nicht, mit ihnen verbunden ist? Mir kamen sie immer ganz normal vor, sage ich zu unserer Verteidigung. Vielleicht sind wir etwas starrköpfig und verschlossen. Das liegt an der Höhenlage, den langen Wintern mit ihren Schneemassen, die uns über Monate hinweg von der Außenwelt abschirmen; am lichtlosen Fichtenwald, der unsere Orte einfasst wie ein Trauerrand, an der Zeit, die oft stillzustehen scheint hier oben in der Uhrenwelt:
Ein Glasträger, heißt es in einer Quelle, hätte eine hölzerne Stundenuhr von einer Handelsreise zu nach Hause gebracht, diese wäre dann hundertfach nachgebaut worden. Einem anderen Bericht zufolge sollen unsere hölzerne Waag- und Unruhuhren von Vorbildern unabhängig direkt vor Ort entworfen und hergestellt worden sein. In jedem Fall verlegte man sich von der Glasmacherei einerseits und der Bewirtschaftung kärglichster Äcker und Felder anderseits vor mehr als drei Jahrhunderten auf die Fabrikation von Zeitmessern, die, neben dem fortbestehenden Flechthandwerk, einen schmalen Verdienst zu sichern versprach. Einfache Holzuhren in beachtlicher Stückzahl, Holzmessinguhren, Lackschilduhren, Kuckucksuhren, Spieluhren, Wecker und vielfältige Automatenuhren entstanden hier über zwei Jahrhunderte hinweg in selbständiger Heimarbeit. Die Heimstatt war zugleich auch Werkstatt, der verfügbare Raum begrenzt, die Uhrmachermeister nächtigten mit ihren Familien in Reichweite ihrer Werkbänke. In zeitaufwändiger Feinarbeit drehten sie Zahnräder, schreinerten Uhrenkästen, gossen Zeiger, schnitzten Verzierungen und Motive ins Holz, bemalten und lackierten Schilder, montierten die Kleinteile zum Uhrwerk. Couragierte Uhrenträger und geschäftssinnige Großhändler, die Packer, vertrieben die tickenden Holzkästen erfolgreich in alle Welt hinaus, erwiesenermaßen in vier Erdteile, als noch nicht alle Menschen allerorts ans selbe engmaschige Zeitmaß gebunden waren, als eine Temporalstunde an einem Wintertag kürzer dauerte als an langen Sommertagen, als einer sich noch nach der Erdumdrehung richtete, nach den Mondphasen, dem Auf- und Untergang der Sonne, einer die Zeit in den Gläsern der Sanduhren verrinnen sah, geweckt wurde vom Scheppern der Kerzenuhr, der inneren Uhr gehorchte oder nackter Not, den Jahreszeiten, dem ersten Hahnenschrei, dem Schlag der Kirchturmuhr, seinem Hunger folgte, einer günstigen Gelegenheit… Doch solche Lebensführung war allzu schwankend und launisch, und wertvolle Arbeitszeit wurde verschwendet, so wurden allen Menschen Uhren verordnet und unser Landstrich erlebte einen unvergleichlichen Aufschwung. Leistungsfähigere Drehbänke und Metallwerkzeuge zogen in die Schuppen ein, die ersten Uhrenfabriken entstanden, die Bevölkerung wuchs. In den Werkhallen wurden nun Zeitmesser industriell unter dem Zeitdiktat produziert, mit der Quarzuhr ein Jahrhundert später war es dann endgültig vorbei mit dem mechanischen Antrieb, den Verzahnungsautomaten, mit dem von Menschenhand zusammengefügten Uhrwerk. Heute produzieren wir elektronische Zeitmesser, Codiergeräte, Zähler, Pumpen, digitale Spielzeuge, Kommunikationssysteme, Mikrochips, wir spielen mit im Global Play…
Nein, für mich sind diese Unglücklichen überhaupt nicht seltsam, sondern geradezu vorbildlich. Ich wurde in ihre Welt gesetzt und habe nach und nach die Augen zu jedem Einzelnen von ihnen aufgeschlagen. Jeder Mensch, dem ein Kind begegnet, ist für das Kind absolut, nie käme es darauf, dessen Wesen, Geschichte, dessen Sosein anzuzweifeln…
Dass in meiner Heimat eine statistisch außergewöhnlich hohe Zahl von Menschen Hand an sich legten, sich selbst entleibten, Selbstmord, Suizid oder Freitod (wie sagt Ihr dazu?) als Lösung wählten, was wussten wir Kinder von solchen Zahlen? Hätte das Wissen uns verändert? Nebenbei halte ich diese Statistik für ein Gerücht, dem man schon allein deshalb Glauben schenkt, weil es sich so hartnäckig hält. Es entspricht dem Bedürfnis, mit dem Finger auf etwas zu zeigen, sich zu winden vor Ekel, Erstaunen und Verachtung und sich im Verhältnis besser zu fühlen, sich über die niedrigen Sitten anderer selbstbewusst zu erheben. Angenommen, wir hielten tatsächlich jenen traurigen Rekord, was hieße das für den Einzelnen? Es ist und bleibt ein einsamer Vorgang, eine persönliche Tat. Was kümmert es den zum Tode Entschlossenen, dass man unweit von ihm ein weiteres Opfer auffinden wird, dass sie sich vielleicht gekannt (und den Schritt des anderen dennoch nicht vorhergesehen) haben? Dass er mit dem, was ihn im Innersten quält, was ihn insgeheim antreibt, dass er mit seiner Wut, seinem Hunger, mit seinem Schmerz, von dem er für immer Erleichterung sucht, nicht allein auf der Welt ist? Er ist es doch und bleibt es selbst dann, wenn er sich mit anderen dazu verabredet, gemeinsam Vorbereitungen trifft und nun mit bis eben noch unbekannten Gleichgesinnten auf hoher Klippe steht und in den Abgrund schaut, wovon man in letzter Zeit immer wieder hört: Ein Grüppchen von Aussteigern trifft sich zu einer letzten, vielleicht erstmalig befreienden Handlung im Internet, sie tauschen Informationen aus, Know-how, verständigen sich auf Ort und Zeit, springen, sprengen, stechen, schlucken, schneiden auf ein Zeichen hin sich gleichzeitig in den Tod, simultan. In unserer Gegend ist noch kein vergleichbarer Fall bekannt geworden. Vielleicht sind wir tatsächlich etwas rückständig und gehen die letzten Schritte lieber allein. Kommunikation ist unsere Sache nicht, wir fürchten das Wort wie Spritzen und Skalpelle der Ärzte. Auch wenn Hunderte, Tausende mit dir zusammen den gleichen Weg gehen, gibt es von jenem erreichten Ziel doch keine Rückkehr. Dass unsere Toten uns zusammenhalten, jeder auf seine Weise, leugne ich dabei nicht…
Gegenwärtig ist es ja en vogue, es vergeht kein Tag, ohne dass Menschen als lebende Bomben oder als Bomben in Menschengestalt andere mit sich in den Tod reißen. Ich frage mich, ob meine Landsleute dazu im Stande wären, ob sie zu Helfern ideologischer oder religiöser Gruppen taugen würden. Ob sie ihre Leben, die sie ohnehin zu beenden planen, einem Gott opfern würden, einer Idee, ob sie es für ein Leben im Paradies hingeben würden, für Trost und Lohn im Jenseits und ihre sofortige Anerkennung im Hier und Jetzt als Märtyrer. Ein doppeltes Versprechen, für das der Einsatz des eigenen, gegenwärtig vielleicht bescheidenen Lebens sich schon lohnen würde, so man an dessen Erfüllung tatsächlich glaubt. Je zahlreicher, hilfloser, unschuldiger und ungläubiger die mitgerissenen Opfer, desto größer der Triumph, gelungener die grausame Tat, sinnvoller der eigene Tod, veredelt durch das Sterben, die Wunden, den Riss im Leben anderer Menschen. In meiner Heimat stirbt man für nichts und niemanden. Wir glauben an keinen höheren Sinn und nicht daran, dass unsere Taten in fernen Himmeln Früchte tragen. Wir sind auch nicht wie Samson mit übermenschlichen Kräften ausgestattet, der die Säulen seines Gefängnisses eigenhändig einriss und mit sich dreitausend verhasste Philister unter den Trümmern begrub…
Und wenn – erneut – einer käme, uns solches glauben machen würde? Die letzten Schritte vieler zum Tode Entschlossener in eine Richtung lenken, die Reihen schließen zum großen Todesreigen, uns choreografieren und synchronisieren würde zum gemeinsamen Marsch auf ein gemeinsames Ziel, ein gemeinsames Ende zu? Unseren Untergang? Den Untergang des Feindes, in dessen Mitte wir uns zündeten?
Wir leben hinterm Berg. Im Augenblick wäre keiner in Sicht, der uns derart zu zähmen wüsste. Wir sterben, wann wir sterben wollen. Das Unglück eines anderen Menschen kann uns weder dazu verführen noch auf Dauer davon abhalten. Die womöglich dramatischen Folgen für unsere Nächsten nehmen wir billigend in Kauf. Sie sind der Preis unserer Freiheit.
Mein Stand der Unschuld endete mit etwa drei Jahren. Ich begann gerade, mir meiner selbst bewusst zu werden, da tauchte ein großer schwarzer Hund auf, der niemandem zu gehören schien und unsere Straße unsicher machte. Seine Existenz zwang mich zu äußerster Vorsicht, zur Anpassung meines Verhaltens an die Gefahr. Keinen Schritt konnte ich fortan tun, ohne die Möglichkeit in Rechnung zu ziehen, gebissen und tödlich verwundet zu werden. Der schwarze Hund bedeutete eine erste Einschränkung meines bis dahin selbstverständlichen, unbewussten Daseins. Das umherstreunende Tier, dessen Angriffslust wir nicht anzweifelten, versetzte uns Kinder in ständige Alarmbereitschaft und Angst. Im Gegenzug wollten wir ihm gewachsen sein, es mit ihm aufnehmen, ihm im offenen Kampf gegenüber stehen, das Tier auslöschen für alle Zeit und Welt. Lieber noch hätten wir uns mit ihm befreundet: An seiner Seite wären wir selbst Furcht einflößend, in seinem Schutz unbesiegbar gewesen, andere wären vor uns in die Knie gegangen, hätten zu uns aufgeschaut! An Tagen, an denen der große Hund sich nicht zeigte, spürten wir seine ungeheure Macht noch stärker. Der Unsichtbare hielt uns gefangen, sein ungewisser Aufenthalt ließ ihn uns überall vermuten. Oder könnte es sein, dass die Bestie, die uns beherrschte, für immer verschwunden war, dass sie fern von uns ihre Runden drehte? Wir wurden mutiger, wagten uns weiter, tanzten und sangen auf die Straße hinaus. Wir sind frei! Doch bald tauchte der Vermisste wieder auf und wir fühlten uns vollkommen lächerlich. Der Hund hatte uns im Griff. Er bestimmte unser Leben, unsere Bewunderung für ihn war vielleicht noch größer als die Angst, die er uns einjagte, vielleicht liebten wir ihn insgeheim mehr als die Freiheit, die er uns raubte. Schwer zu sagen, auf wen oder was wir leichter verzichtet hätten: auf den schwarzen Hund oder auf uns selbst.
Susanne Fritz
„Heimarbeit“
Roman (Auszug)
Verlag Klöpfer & Meyer 2007
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags