Die Augen des Kaimans
Erzählung
Seit mehr als einem dreiviertel Jahr lebte er bereits in dieser Gegend, doch so nahe wie jetzt war er der Grenze noch nie gewesen. In diesem Niemandsland im Osten des Landes war es nicht, wie etwa im Westen, militärische Präsenz, auch kein Einschnitt in der Landschaft, kein Fluss, kein Gebirge, sondern die Sprache, an der zu erkennen war, dass das hier Grenzgebiet war; denn obwohl es Spanisch war: Es klang fast wie Brasilianisch, was José, der Chefcowboy, jetzt zu ihm sagte, und er verstand es nicht sofort.
Der Helfer des Chauffeurs lag schon tagelang mit Fieberanfällen im Krankenhaus, man sprach von Malaria und davon, dass er dumm sei und zu lange gewartet habe, bis er gekommen sei. Der Helfer, mit dem gemeinsam er vor drei Wochen noch im roten Staub unter dem Lastwagen liegend das Differenzial ausgewechselt hatte, lag nun mit nassem Gesicht und glänzenden Augen auf den weißen Laken eines Krankenbettes in einem Einzelzimmer und wartete, ohne es zu wissen, auf seinen Tod. Er, Andreas, war davorgestanden, nachdem er von seinen Bäumen herabgestiegen war und die Leiter umgelegt und gegen die westliche Außenmauer des Klosters gelehnt hatte, und hatte das Glänzen des Fiebers auf dem Gesicht des Vierzehnjährigen durch die Fliegentür hindurch gesehen. Als ihn eine Krankenschwester dort stehen gesehen hatte, hatte sie ihn gefragt, was er hier wolle, und er hatte keine Antwort gewusst.
Er hatte mitbekommen, dass die Nonne seit Tagen auf der Suche nach Ersatz für den Helfer war, diesen und jenen fragte, und hatte schon daran gedacht, sich zu melden, zugleich jedoch gewusst, dass sie von selbst auf die Idee kommen müsste; würde er es ihr vorschlagen, würde sie nur lachen und sagen: „Was? Du? Du schneid deine Bäume …“ Er meldete sich nicht, schnitt weiter die Bäume, die um das Kloster standen. Sie sahen verwüstet aus; es hatte sich wohl seit einem Jahrzehnt niemand mehr darum gekümmert. Jetzt tat er es und schnitt sie; er schnitt ihnen runde Kronen und wartete, bis die Nonne schließlich tatsächlich kam und ihn fragte, ja noch mehr, ihn bat, anstelle des erkrankten Helfers auf die Estancia, die mehr als fünfzehntausend Hektar große Farm, die im Besitz des Ordens war, mitzukommen. Er hatte gewusst, dass niemand freiwillig mitfahren würde. Sie waren alle schon allzu oft unfreiwillig dort gewesen. Er sah ihr altes Gesicht von weit oben, und wie sie mit zusammengekniffenen Augen blinzelnd fragte. „Warten Sie“, sagte er, ließ die Baumschere vorsichtig in das Gras fallen und stieg von der Leiter hinunter. Die Aluholme blitzten weiß in der Sonne. Er stellte sich neben sie. Sie blickten auf die Baumreihe. Er war noch nicht weit gekommen. Er zeigte mit einer vagen Handbewegung auf die Bäume und sagte: „Und wann soll ich das fertigmachen?“ Sie antwortete: „Vergiss doch die Bäume, die laufen nicht davon. Das kannst du irgendwann machen. Wir müssen hinaus, das ist jetzt das Wichtigste.“
„Nimm“, sagte José, „trink. Das beruhigt die Schlangen.“
„Wie meinst du das?“, fragte er. Aber José gab keine Antwort, sagte nur: „Und wenn es die Schlangen nicht beruhigt, dann beruhigt es wenigstens dich.“ Er sprach anders als er es untertags getan hatte.
Sie waren in der Dunkelheit, die sich im Winter um sechs Uhr, fast ohne Dämmerung über das Land legte, angekommen, hatten Quartier bezogen und waren gleich schlafen gegangen. Er schlief in einer Hängematte auf der Veranda des Hauses der Nonne; die Veranda hatte Wände, die beinahe vollständig aus Insektennetzen bestanden, und die warme Luft trocknete ihm den Schweiß vom Gesicht. Am nächsten Tag hatten sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang junge Pferde gebrandmarkt, unterbrochen nur von je einer kurzen Pause um zehn und um vierzehn Uhr. Als es dunkel war, ließen sie alles liegen und gingen zum Abendessen, wo es zum dritten Mal an diesem Tag Reis mit Trockenfleisch gab. Danach, als sie im Haus der Nonne waren und sie ihn in seinem Rucksack kramen hörte, kam sie heraus auf die Veranda und fragte sie ihn, was er vorhabe. Er sagte, er würde mit den anderen mitgehen.
„Auf die Lagarto-Jagd?“
„Ja.“ Die Hitze des Tages hämmerte ihm noch jetzt, da es abgekühlt hatte, zwischen den Schläfen.
„Mit diesen Schuhen?“
„Ja“, antwortete er.
„Hast du denn keine anderen?“
„Nein.“ Er sah an sich hinunter. Es waren Bergschuhe, die ihm ein Tourist, Italiener, vor Monaten dagelassen hatte. Er hatte keine anderen. Von einem Schuh löste sich vorne die Sohle.
„Du bräuchtest Gummistiefel.“ Die Nonne seufzte, und er dachte: Was geht dich das an, Alte.
„Das Wasser macht mir nichts aus.“
„Und die Schlangen, Andrés? Machen die dir auch nichts aus?
„Welche Schlangen?“
„Die Wasserschlangen.“
„Von denen wusste ich nichts.“
„Ja“, sagte sie.
„Giftig?“
„Ja.“
„Wie giftig?“
„Ziemlich.“
„Tödlich?“
„Hier heraußen? Ja.“
–
„Es wäre gerade noch Zeit, dass ich dir den Segen gebe.“ Sie machte ein Kreuzzeichen in die Luft und lachte. Es war ein Lachen der Erinnerung.
„Wenn dich eine beißt, fällst du um und schwitzt dein Leben aus.“
Er schluckte.
„Gehst du trotzdem?“
„Ich habe zugesagt.“
„Gott segne dich, mein Sohn.“
„Danke, Mutter.“
Er nahm einen großen Schluck, und noch bevor er schmeckte oder spürte, was es war, das er trank, nahm er einen noch größeren zweiten. Dann begann es in ihm zu brennen, als hätte er Feuer geschluckt, und er begann zu husten. José und die anderen lachten. „Schlägt sie ein, die bombita?“ Er hustete leer.
Plötzlich spürte er nichts mehr und hörte auf zu husten. Er nahm eine Zigarette aus der Packung in der Hemdtasche und zündete sie sich an. Er nahm einen tiefen Zug, aber spürte den Rauch nicht. Wer hatte das mit der kleinen Bombe gesagt? Nichts als dieser Satz war in seinem Kopf, und dann sah er einen violett lackierten Blechkanister vor sich, aus dem eine Alte auf dem Markt in der Stadt eine durchsichtige Flüssigkeit in einen durchsichtigen kleinen Plastiksack leerte: aus Zuckerrohr hergestellter Industriealkohol. Unter dem Lack schimmerte das goldfärbige Blech durch. Er sah es vor sich, und das war es, was er eben geschluckt hatte: Industriealkohol, verdünnt mit Pulverfruchtsaft. Er sah Bäume, die sich im Wind bewegten. Die Welt drehte sich.
Er hatte gewusst, dass es die Schritte der Nonne waren, die vom Kiesweg her zu hören waren, und er hatte die Schere einen Augenblick lang stillgehalten. Er hatte daran gedacht, wie gut es sein würde, für ein paar Tage, vielleicht eine Woche wegzukommen von hier, auch von Eva. Dann rief die Nonne seinen Namen, und er, von der Baumkrone aus, rief – schon jetzt erleichtert – zurück: „Ja, Mutter!“ – Und dann alles ganz so, wie er es sich gedacht hatte in der Sekunde, in der er die Schere stillgehalten hatte.
Er sah, wie sich die Gruppe wieder in Bewegung setzte, José ging vor ihm, die Flasche zuschraubend. Auch er setzte sich in Bewegung, und ihm war, als habe er Watte unter den Füßen. Er hörte Stimmen, die weit weg waren. Dann verließen sie die Wiese und es kam das Wasser, und jetzt war ihm, als gehe er auf nasser Watte. Er dachte nicht mehr an die Schlangen, er dachte überhaupt nichts mehr.
Jede der fünf oder sechs Personen hatte eine Taschenlampe in der Hand, alle besaßen dasselbe Modell, auch Andreas, das einzige Modell, das es auf dem Markt in der Stadt gab, und er konnte das klare braungelbe Wasser sehen, wie es in Wellen von den dunklen unbehaarten Waden seiner Vordermänner wegsprang und zugleich in Wellen gegen sie schlug. Er wusste nicht, wo er war, und nicht, warum er hier war. In der rechten Hand trug er eine Machete. Er sah nichts als diese Wellen, die sich auf einmal veränderten, und fast wäre er in José hineingerannt; denn auf einmal standen alle wieder. José steckte sich seine Taschenlampe in den Mund und sagte ganz leise irgendetwas. Dann nahm er die Taschenlampe wieder aus dem Mund, drehte er sich zu Andreas hin um, leuchtete ihm ins Gesicht und flüsterte: „Leih mir deine!“ Wortlos hielt Andreas ihm seine Taschenlampe hin; José drückte ihm seine in die Hand. Sie war heiß. Er sah jetzt nur noch rote und gelbe Ringe; aber dann, als hätte das Licht ihn nüchtern gemacht, begann er langsam wieder schärfer zu sehen. Solange sie gegangen waren, hatte er an nichts gedacht, aber jetzt kamen ihm wieder die Schlangen in den Sinn, und er vergaß sie wieder, als er sah, dass José barfuß war. Wo hatte er seine Schuhe hingetan?
Er wischte die Taschenlampe in seinem Hemd ab, das an ihm klebte. Dann dachte er an den Helfer, der im Spital lag und den Fieberschübe heimsuchten, gegen die nicht er und auch sonst niemand etwas machen konnte; er dachte daran, dass er seinen Namen nicht kannte: im ganzen Spital war er immer nur „Helfer“ genannt worden; und er dachte, dass vielleicht der Helfer selbst nun seinen Namen nicht mehr wusste. Er erinnerte sich daran, als er vor seinem Zimmer gestanden war, zwischen ihnen nur Luft, ein paar Meter und eine grüne Fliegentür. Schweiß rann ihm über sein Gesicht, und er wischte mit dem Unterarm seine Stirn ab. Vor kurzem waren sie nebeneinander unter dem beigen Lastwagen gelegen und hatte das Differenzial ausgewechselt, und Andrés hatte ihm von Eva erzählt, und was er unten am See mit ihr machte.
Schon seit längerem hatte er immer wieder einmal den Gedanken gehabt, diese Estancia sehen zu wollen, und jetzt, im warmen Wasser stehend, dachte er, dass es Irrsinn war, seinen Gedanken geglaubt zu haben, und er dachte, dass ihm die Estancia, die eintausend Rinder, die dreihundert Schafe, die mehr als einhundert Pferde, José, die anderen und das warme Wasser um seine Füße völlig gleichgültig waren. Er hatte nur von Eva weggewollt.
Er wusste nicht, wie er sie loswerden könnte. Jedesmal, wenn er vor ihr stand, oder wenn sie nebeneinander saßen oder gingen, und er dachte, es ihr sagen zu wollen, hörte er laut und deutlich seine eigene Stimme von vor Monaten, mit der er ihr gesagt hatte, dass er nur sie wolle, nichts anderes. Damals hatte er es gemeint. War er denn zu feig, es ihr einfach zu sagen, dass er jetzt doch etwas anderes wollte? Oder gar nichts anderes, sondern einfach nichts? Anstelle von ihr: nichts? Er müsste ja nicht die Wahrheit sagen; er könnte ja auch lügen, irgendetwas erzählen. Er war zu feige zu beidem, und jetzt, während er die Stimme Josés hörte, wusste er, dass er wieder nichts sagen würde, wenn er zurück wäre, und dass es weitergehen würde. War sie denn nicht eine hübsche Frau, die hübscheste in der ganzen Gegend?
Als sie frühmorgens aus der Stadt losgefahren waren, war es kalt gewesen, und er, zwischen Säcken mit Salz und Mais und anderem auf der nach oben offenen Ladefläche des Lastwagens stehend und über die hohen Bordwände, an denen er sich hielt, schauend, fror zum ersten Mal seit er hier war. Man fuhr nicht sofort auf die Straße, die über die Grenze führte, sondern zuvor in die entgegengesetzte Richtung, auf die Straße ins Landesinnere. Bei einer der letzten Siedlungen am westlichen Stadtrand blieb der Lastwagen stehen, und der Fahrer hupte mehrmals. Als nichts sich regte, öffnete sich die Tür an der Beifahrerseite, die Nonne stieg umständlich aus und ging auf eines der Häuser zu. Ein Hahn krähte, und dann krähte von weiter her ein zweiter. Andreas sah sie zum ersten Mal in der blauen Tracht. Sie blieb stehen, stemmte die Fäuste in die Hüfte und rief zornig irgendwelche Namen, Namen von Männern; fast augenblicklich kamen daraufhin die mutmaßlichen Namensträger aus ihren Hütten: Man konnte denken, dass sie mit ihren Rücksäcken oder Taschen in der Hand hinter der Tür nur auf das zornige Rufen der Nonne gewartet hatten. Wie an Schnüren gezogen gingen sie hinter ihr her, warfen ihre Bündel achtlos über die weiße Bordwand und kletterten ihnen auf den anfahrenden Lastwagen nach. Keiner sah fröhlich drein, keiner sagte ein Wort zu Andreas, nicht einmal einen Gruß. Auch zueinander sagten sie nichts, begannen nur nach einer Weile ein jeder für sich Coca aus kleinen grünen, durchsichtigen Plastiksäcken zu kauen. Ein Kuvert mit weißem Pulver, Natriumbikarbonat, machte die Runde und wurde dann wieder weggesteckt. Sie sahen vor sich hin und kauten; später kauten sie nicht mehr, spuckten nur ab und zu über die Bordwand. Wie Strafkolonisten sehen sie aus, dachte er, und erfuhr später, dass auch diese Männer Schulden hatten, die sie nun, ob sie wollten oder nicht, abarbeiten mussten, wie alle Schuldner der Nonne, die nicht zahlen konnten, und zwar dort draußen im Niemandsland.
„Andrés“, sagte José, und Andreas stand im Wasser und sagte: „Was?“
„Schau dort, der Lagarto! Zieh ihm eine über!“
Es klang nicht Spanisch, was der Cowboy sagte. Er leuchtete ins Wasser, und aus dem Widerschein heraus leuchten wie zwei knopfgroße Glühbirnen weiß die Augen des Kaimans. José leuchtete ihm genau in die Augen; das Reptil bewegte sich nicht.
„Was ist los mit dir, Gringo?“, sagte ein anderer, der weiter weg stand, leise. Andreas hörte das Wasser und sah dem Kaiman in die Augen, die leuchteten. Es klang Brasilianisch, was die Stimmen sagten, und Andreas verstand es nicht. Er wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn, die aus Wasser zu sein schien. Etwas zog in ihm, und er konnte nicht denken.
„Was?“, sagte er zu José, und José machte ihm auf den Kaiman deutend vor, was er nachmachen sollte: er sollte ihm mit der Machete den Schädel einschlagen, ganz einfach. Jetzt hatte Andreas es verstanden.
Später fragte er sich, warum er nicht einfach Nein gesagt hatte, aber jetzt nickte er.
Er nahm wie José die Taschenlampe zwischen die Zähne, griff die Machete mit beiden Händen und ging mit über den Kopf erhobenem Messer langsam auf den Kaiman zu. Mit der Taschenlampe leuchtete er ihm in die Augen. Aus seinem Mund rannen am Schaft der Taschenlampe vorbei Flüsse von Speichel. Er hatte noch nie etwas so leuchten gesehen. Das war etwas jenseits von Weiß. Ganz knapp vor dem Tier blieb er stehen, und jetzt erst hörte er wieder etwas. Die Cowboys riefen leise, zischend und mit Eile in der Stimme: „Los, los! Zieh ihm eine über! Warte nicht!“
Und Andreas presste die Augen zusammen und dachte an Winter und an Holz, an den Vater und die Großmutter, an den großen Stock hinter der Tenne, an die Eisenkeile und den Vorschlaghammer, und an den beißend kalten Winterwind in seinem Land, an den Schweiß auf der Stirn und an die Axt in den heißen Händen, und dann dachte er nichts mehr und ließ das, was er in Händen hielt, was immer es war, niedersausen, und dann hörte er ein Geräusch, das klang, als hätte er nasses, schweres, leicht morsches Holz getroffen.
25. März 2009, Wiepersdorf
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