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Christian Schulteisz
Wense
Leseprobe aus dem Romanprojekt
Kurz vor der Einfahrt tuts einen Schlag. Ein Waggon ist entgleist. Die Fahrgäste scheinen allerdings schon dran gewöhnt zu sein, ruckzuck hat man ihn mit Brechstangen wieder auf die Schienen gehievt, und so nimmt der Zug die letzte Kurve mit scharfen Pfiffen.
Wense steigt aus.
Die Aktentasche hat plötzlich ein Mordsgewicht, war das wirklich diese Tasche, mit der er durch den Wald gehetzt ist? Er bittet zwei Jungs sie zu tragen. Die aber legen den Finger vor den Mund: „Psst, es ist tief in der Nacht, das Gespenst kommt gleich!“
Ist er etwa keins?
Er schafft sich zum nächstbesten Gasthaus. Die Wirtin, eine junge Bäuerin, übernimmt sofort das Gepäck, Zimmer Null.
Dort lässt sich Wense aufs Bett krachen.
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Christian Schulteisz
Wense
Leseprobe aus dem Romanprojekt
Kurz vor der Einfahrt tuts einen Schlag. Ein Waggon ist entgleist. Die Fahrgäste scheinen allerdings schon dran gewöhnt zu sein, ruckzuck hat man ihn mit Brechstangen wieder auf die Schienen gehievt, und so nimmt der Zug die letzte Kurve mit scharfen Pfiffen.
Wense steigt aus.
Die Aktentasche hat plötzlich ein Mordsgewicht, war das wirklich diese Tasche, mit der er durch den Wald gehetzt ist? Er bittet zwei Jungs sie zu tragen. Die aber legen den Finger vor den Mund: „Psst, es ist tief in der Nacht, das Gespenst kommt gleich!“
Ist er etwa keins?
Er schafft sich zum nächstbesten Gasthaus. Die Wirtin, eine junge Bäuerin, übernimmt sofort das Gepäck, Zimmer Null.
Dort lässt sich Wense aufs Bett krachen.
Um drei, vier, schon wacht er auf, ungeduldig, und endlich, halb fünf! Er springt aus den Federn und reißt das Fenster auf. Es gießt in Strömen, donnert sogar. Aber jedes Gewitter ist ja anders instrumentiert, die Instrumentierung verrät, was draus wird: Es scheppert blechern, genauer, es scheppert wie von Blechsieben über einer schütteren Decke von Stratus, das bedeutet – blauster Himmel!
Wense atmet durch.
Sein Frühstück ein Glas Most, vier Äpfel.
Er zieht sich die Hose an, die Knickerbocker, Schuhe, Sakko? Nein, erst mal nur den Mantel, obendrauf die Batschkapp, passt immer. Es könnten wieder über sechzehn Grad werden. Die brennenden Städte heizen das Land auf, im Winter werden alle, die noch leben, gemütlich beisammensitzen am offenen Feuer. Er klemmt sich die Tasche untern Arm, drin das Butterbrot, alter Tee, Portemonnaie und die Segensworte seiner Mutter. Natürlich auch die Karten und die Messtischblätter, Maßstab 1:25000, außerdem die Lupe, um sie lesen zu können, und, ganz wichtig, die Notizhefte.
Kürzlich ist eine Dr.-Arbeit geschrieben worden über „Goethes hohle Zähne“, es gibt aber noch keine einzige über die geheimnisvollen sog. Volksburgen, die sich in großen und geplanten Systemen über das Land ausbreiten und deren Sinn und Zweck gerade in ihren sehr verschiedenen Bauformen uns noch ziemlich dunkel ist.*
Durch Regenschleier fährt er mit der Kraftpost auf die Hochebene und lässt unten halten. Oben, zwischen den Bäumen, ist die Schellburg kaum zu sehen. Der Wagen poltert fort, und da steht er nun, allein, vor sich den Olymp.
Zwei Stunden lang drängt er sich durchs Tannendunkel, das ist sein Kosmos, er schwebt durchs All. Und was ein Empfang, als er schließlich hinausgleitet, die Sonne strahlt, hat die Wolken zerfetzt.
Auf der Schellburg trifft er eine Mädchenschulklasse, sie kauert in einem Verlies, die Lehrerin als Folterknecht erklärt: „Schell bedeutet Scala, also Stufen.“
„Unsinn“, ruft Wense. „Schreit mal ganz laut Hallo!“
Die Mädchen tun es, und aus der Schlucht schallt ein sechsfaches Echo.
„Na bitte, bewiesen!“
So viele stolze und wehrhafte mittelalterliche Burgen wurden in der frühen Neuzeit von reichen Bürgern befallen und zu harmlosen Lustschlösschen mit Lustgärtchen und idyllischen Wassergräblein gemacht. Zum Glück konnte die Natur ein paar übersehene oder unbeliebte Exemplare retten, indem sie klammheimlich ihre Hand um sie schloss. Allerdings versteht die sogenannte Natur rein gar nichts von Instandhaltung. Die Tiere ziehen ein und verrichten ihre Notdurft, wo es ihnen beliebt, obwohl im späten Mittelalter doch endlich Aborte eingebaut wurden. Moose und Flechten keimen und inkrustieren sich, Pilzsporen landen und sprießen in den kleinsten Ritzen und Fugen. Die sogenannte Natur breitet sich bis in den letzten Winkel aus, steckt überall ihre Nase, ihre Schnauze, ihre Fühler hinein, als suchte sie irgendwas Bestimmtes. Sie findet aber nichts. In den Geheimgängen legt sich der Staub nieder wie totes Plankton am Meeresgrund.
*Originalzitat Hans Jürgen von der Wense