DAS HERRENHAUS VERANSTALTUNGS-RAUM ARBEITS-RAUM KUNST LITERATUR MUSIK
 


CONCERTO D' AMORE
Ein Fragment


Sie stieg aus an der Kreuzung Marszalkowska - Aleje Jerozolimskie. Keine besondere Gegend, immer gleich häßlich auf diese ungepflegte und ausdruckslose Art Häßlichkeit. In der Nähe befand sich ein weitläufiger Bazar, über einem Schnellimbis prangte der Name „Asien“. Seit etlichen Jahren konnte sich niemand in dieser Stadt dazu durchringen, dieses Relikt aus den Zeiten der Volksrepublik in Ordnung zu bringen.
Sie hatte noch etwas auf der Post zu erledigen und so beschloß sie bis zur Ecke Nowy Swiat - Swietokrzyska zu Fuß zu gehen. Zunächst lief sie an der Rückseite der Kaufhäuser entlang, wo das Gedränge etwas geringer war. Dann bog sie in die Zlota ab, eine Straße, deren Häuser sie völlig unbeachtet ließ. Sie hätte nicht einmal sagen können, wie sie aussahen und was sich hinter ihren Fassaden verbarg. Ihr Blick richtete sich nach vorne, wo am Ende der Straße ein hohes Jugendstil-Gebäude stand, eines der wenigen unversehrt gebliebenen – das Haus von Wedel.

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Die Sicht darauf störte ein grässlicher Pavillon an der Przeskok Str., mit einem riesigen Werbeschild oben drauf, das den prächtigen Bau beinahe verdeckte. Wer läßt es zu, dass die Stadt so verhunzt wird, dachte sie und der Augenblick der Freude darüber, dass es das Haus am Ende der Straße überhaupt noch gab, wurde gleich getrübt. Dieses Haus, errichtet am Ende des 19. Jahrhunderts, hatte Ludwikas Urgroßvater entworfen. Ein Mann, den sie nie kennengelernt hatte, er starb 1904.
Als sie an Wedels Geschäft vorbei ging, schaute sie in die Fenster des Erdgeschosses. Drinnen befand sich ein Café, ebenfalls entworfen von ihrem Urgroßvater, der ihm den Namen „Das Altmodische“ verlieh. Die Spezialität des Hauses war heiße Schokolade. In zwei kleinen Zimmern – dem Roten und dem Grünen – wird auch heute noch heiße Schokolade serviert, dachte sie plötzlich. Diese Tatsache überraschte sie so sehr, dass sie auf der Stelle stehen blieb. Eine Frau wich ihr aus, drehte den Kopf und lächelte nachsichtig.
In dieser seltsamen Stadt, die es nicht mehr gibt, obwohl sie doch existiert, steht also ein Haus, in dem seit hundert Jahren unverändert heiße Schokolade angeboten wird. Warum hat sie dieses etwas altmodische, und doch so zauberhafte Café nicht als Treffpunkt mit ihrem Unbekannten gewählt? Nun gut, mit jemandem, den man nie zuvor gesehen hat, muß man sich wohl an einem Ort treffen, wo die Zeit schnell und lässig fließt und die Menschen laut reden, ohne sich dabei anzuschauen.
Eine Weile dachte sie noch an ihren unbekannten Vorfahren, an sein Glück, im eigenen Bett sterben zu dürfen, in einem schönen Haus in der Polna Straße 82. Sein Sohn, Lus Großvater, hatte nicht mehr so viel Glück. Im August 1944 traf ihn eine zufällige– deutsche oder polnische – Kugel, als er mit seiner Frau in einer Warschauer Straße unterwegs war. Wohin wollte er? Und in welcher Straße war es passiert? Begraben wurde er in einem Rasenstreifen, wie die meisten, die damals, während des Warschauer Aufstands ihr Leben verloren. Niemand kennt seinen letzten Ruheplatz.
Ludwika mochte Warschau nicht. Das jetzige, das sie kannte, nicht jenes Warschau, das es hier einmal gegeben hatte, vor unvorstellbar langer Zeit, in einer anderen, fernen Epoche. Und doch gibt es immer noch Menschen, die über die Straßen des Vorkriegs-Warschaus gelaufen waren, dachte sie. Aber schon in wenigen Jahren wird keiner mehr leben, der sich an die Luft, das Licht, den Geruch der Straßen von damals, an die Geräusche und den Rhythmus des vergangenen Lebens erinnern wird.
Es gab in der Stadt kaum eine Gegend, die Ludwika gefiel. Hier und da eine Grünanlage, ein leerer Raum zwischen den Häusern in der Stadtmitte. Ein verirrter Lichtstrahl der untergehenden Sonne, eine geschwätzige Spatzenschar, versteckt in der Krone eines Baumes, der sich an eine alte Mauer schmiegt. Lange Zeit war es Lu nicht bewußt, dass es sich bei den Leerräumen um Spuren ehemaliger, zerstörter und nicht wieder aufgebauter Häuser handelte. Eine Art Narben, die nicht mehr schmerzten. Die alten Warschauer waren von solchen Lücken irritiert und verstört, wollten sie gerne wieder bebaut sehen, ein Wunsch, den Lu nicht begreifen konnte. Wozu ein weiteres Haus, noch grässlicher als die, die es seit Jahren zur Genüge schon gab, ergraut, abweisend, beschmiert mit sinnlosen Graffiti. Es beunruhigte und deprimierte sie immer, wenn man eine weitere bescheidene Grünfläche an der Marsza³kowska notdürftig umzäunte, um hinter dem Zaun Bäume auszureißen und eine tiefe Baugrube auszuheben. Gewöhnlich wendete sie den Kopf ab, sobald sie aus dem Straßenbahnfenster so einen verhassten Zaun erblickte. Die Trauer, dass sich schon wieder eine belanglose Stelle in dieser Stadt verändern sollte, legte sich immer um ihr Herz.
Einmal brachte ihr Vater einen Stadtplan des Vorkriegs-Warschaus mit nach Hause. Sie betrachtete ihn staunend. Mit einer dunklen Farbe wurden darauf die von Juden bewohnten Bereiche markiert, und es schien so, als wären die übrigen Stadtteile nur eine Art Anhängsel an einem weitläufigen, dominierenden Zentrum gewesen. Krochmalna, Nalewki, Leszno – damals Straßen voller Leben – existierten nun seit langem nicht mehr. Oft war sie unterwegs auf der Suche nach Spuren, selbst den geringsten, der verstorbenen Gegenden. Immer vergeblich. Die Straßen trugen zwar noch dieselben Namen, die Häuser waren aber nicht mehr dieselben. Lange Zeit wußte sie nicht, warum viele von ihnen auf kleinen Hügeln standen. Eines Tages verstand sie endlich: Sie wurden direkt auf dem Schutt des Warschauer Gettos errichtet. Auf ihren Streifzügen ging sie über einen großen Friedhof.
Als ihr klar wurde, dass sie in einer toten Stadt lebte, begann sie ihren Eltern Fragen nach jener unwiderruflich vergangenen Zeit zu stellen. Sie erinnerten nicht mehr viel, oder wollten vielleicht nicht darüber reden. Die Mutter mochte sich über Warschaus jüdische Bewohner nicht äußern.
„Wir waren durch eine Mauer von ihnen getrennt. Man sah sie gar nicht. Und wenn einer das Getto ohne den Judenstern auf dem Arm verließ, war es schwer, ihn zu erkennen.“
Und doch wußte die Mutter ganz genau Juden von Ariern zu unterscheiden.
„Wozu soll das gut sein?“ fragte Lu sie.
Mutter lächelte dann immer etwas seltsam und sagte:
„Das verstehst du eh nicht.“
Ludwika ließ trotzdem mit ihren Fragen nicht locker. Schließlich rang sie der Mutter das Geständnis ab, dass sie Juden nicht mochte und sie als die Ursache vielerlei Konflikte ansah.
„Juden gibt´s doch gar nicht mehr. Man hat sie alle umgebracht“ wiederholte Lu dann immer.
„Nicht alle. Und die Leute mögen sie trotzdem nicht.“
„Eine typisch polnische Erfindung – Antisemitismus ohne Juden.“ An dieser Stelle angekommen, begann Lu immer sich aufzuregen und das seltsame Gespräch lief dann noch kurz weiter bis sie schließlich schrie und die Mutter weinte.
Es tat ihr immer leid, Mutter zum Weinen gebracht zu haben, so fügte sie nur noch den letzten Satz, das endgültige Argument, hinzu:
„Es ist eine Schande, schlecht von ihnen zu reden, nach all dem, was ihnen widerfahren ist.“
Lu wartete darauf, dass Mutter doch noch etwas Gutes sagte, ihren verbissenen Widerwillen aufgäbe, das bereits Ausgesprochene zurücknähme. Aber sie schwieg nur und schaute Lu feindselig an.
Kurz vor Mutters plötzlichem Tod bat Lu sie noch einmal „Versöhne dich mit ihnen“, aber Mutter brach ihr Schweigen nicht. Nun fragte sich Lu, wie sie sich dort im Jenseits mit diesen unwiderrufenen bösen Worten fühlen mochte.
Der Vater hörte diesen Gesprächen regungslos zu. Er mischte sich nie ein, ergriff nie Partei. Als Lu einmal darüber nachdachte, warum Mutters Widerwille und Vaters Gleichgültigkeit sie so tief verletzten, erkannte sie, dass es ihr nicht wichtig war, recht zu bekommen, vielmehr ging es ihr um die Verteidigung dieser Welt, die ein für allemal untergegangen war. Für die Eltern, die diese Welt noch mit eigenen Augen gesehen hatten, besaß sie keinen besonderen Wert, war nicht so geheimnisvoll, mystisch, unerreichbar. Es hatte sie einfach einmal gegeben und nun existierte sie eben nicht mehr.
Lu überlegte oft, wie sie sich in dieser Zeit verhalten hätte, in den Jahren der deutschen Besatzung, als so viele Menschen gerne und unbekümmert bereit waren, andere dem sicheren Tod auszuliefern. Mehrmals stellte sie sich folgende Szene in einer Warschauer Straßenbahn oder einem Nahverkehrszug vor: Sie kommt ins Gespräch mit jemandem, der versucht, sich im Gedränge unsichtbar zu machen. Sie schirmt ihn ab, bemüht sich, durch ihr Verhalten die Aufmerksamkeit der anderen von ihm abzulenken, aber die Spezialisten im Erkennen jüdischer Gesichter haben ihn schon bemerkt, sie kommen näher, führen ihn aus der Bahn heraus, und er folgt ihnen gehorsam, ohne ein Wort der Klage. Die Mitreisenden wechseln ein paar Bemerkungen über den Vorfall oder schweigen nur, die meisten wenden den Blick ab. Auch Lu schaut nun aus dem Fenster, an dem eintönig die Telegraphenmasten vorbeiziehen.
Oder ein ausgesetztes jüdisches Kind in einem Hauseingang. Sie nimmt es an die Hand, nichts als weg von den neugierigen, widerwilligen oder gar feindlichen Blicken der Menschen. Sie nimmt das Kind mit, aber wohin? Wo bloß kann man in dieser Zeit ein jüdisches Kind unterbringen? In der Wohnung gibt es einen Schrank, einen alten Danziger Schrank, in dem man sich verstecken könnte. In seiner Rückwand ist eine Öffnung und dahinter eine kleine fensterlose Kammer. Ein wunderbares Versteck für eine ganze jüdische Familie. Wo kriegt man nur einen solchen Schrank her und was passiert, wenn der geheime Duchgang entdeckt wird?
Lu schlief schlecht zu dieser Zeit. Sie stand oft auf, lief im Zimmer auf und ab, schaute aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus, aus der Gesichter mit Augen voller Trauer auftauchten. Gesichter der Juden, die nicht gerettet werden konnten.
Dem Vater waren die Themen, die Lu so sehr aufwühlten, nur scheinbar gleichgültig. Er interessierte sich für die Kultur der Juden vor dem Krieg, empfand ihnen gegenüber Mitleid und Respekt. Er mochte sich aber der Mutter nicht widersetzen, da er Auseinandersetzungen mit ihr nicht ertrug. Die Mutter begeisterte sich auch für jiddische Lieder, mochte das Exotische an den Juden, las gerne Bücher über das untergegangene Leben der Juden. Lu konnte dieses seltsame Gemisch aus Abneigung und Sentimentalität nicht begreifen, wie sie es bei ihrer Mutter beobachtete, aber auch bei manch anderen, die zu sagen pflegten: „Ich persönlich habe nichts gegen sie, aber...“
Den Vater beschäftigten andere Probleme. Er wiederholte oft den Satz: „Traut keinen Ideologien, keinen Erlösungslehren.“ Selbst hatte er sich nie auf irgendwelche vorgefertigten Rezepte zur Weltverbesserung verlassen.
„Am schlimmsten sind die Heiler, die einem die wundersame Genesung versprechen“, meinte er. „Die fürchte ich am meisten. Ich suche immer nach meinem eigenen Rezept.“
„Und was verschreibst du dir?“ fragte ihn Lu einmal.
„Verantwortung. Jeder Mensch trägt die Verantwortung für die ganze Welt, in jedem Augenblick seines Lebens.“


Aus dem Polnischen von Monika Kjer
Unveröffentlichtes Manuskript; © alle Rechte bei der Autorin